am
4. Oktober 2010

Kaum 24 Stunden nachdem ich am vergangenen Freitag meinen Blog-Beitrag mit der Aussage „Machtgewinn für jedermann durch Behavioral Economics“ fertiggestellt hatte, entdeckte ich im Internet in einer Ausgabe der NY Times aus dem Mai dieses Jahres eine Kolumne des US-Ökonomen Robert H. Frank mit dem Titel „The Impact of the Irrelevant on Decision-Making“ – der Einfluss von Irrelevantem auf Entscheidungen. Darin erwähnt er unter anderem ein Experiment aus den 1970er* Jahren, das zumindest allen, die sich mit Behavioral Economics befassen, bestens bekannt sein dürfte. Bei diesem Test wird eindrucksvoll vorgeführt, welch enormen Einfluss zufällige, mittels eines Glückrads ermittelte Zahlen auf die Beantwortung einer Wissensfrage haben können. So sollten Studenten raten, wie viele Staaten zu den Vereinten Nationen gehören. Der Durchschnitt der von ihnen geschätzten Zahl bewegte sich auffallend in Richtung der zuvor erdrehten Zahl – ein eindrucksvolles Beispiel für die Macht eines Ankers, dessen Wirkung nur unzureichend adjustiert wird.

Noch bedeutsamer als die Wirkung von Ankern erscheint mir jedoch die Erkenntnis, dass selbst irrelevante Informationen Einfluss auf unsere Entscheidungen haben können. So habe ich selbst erlebt, wie der Verkäufer einer Eigentumswohnung, deren Verkehrswert sich damals auf 170.000 Euro belief, beiläufig auch den Gebäudeversicherungswert ins Spiel brachte. Und der lag bei 200.000 Euro. Obwohl der Anbieter sogar so ehrlich war und betonte: „So viel will ich ja gar nicht für die Wohnung haben“ (natürlich wusste er, dass er diesen Preis auch niemals würde bekommen können), verfehlte der einmal geworfene Anker seine Wirkung als neuer Referenzpunkt nicht. Am Ende einigte man sich nämlich auf 179.000 Euro, und beide Parteien waren zufrieden. Der Verkäufer, weil er sogar mehr als den Verkehrswert für seine mittelprächtige Wohnung erzielt hatte. Und der Käufer meinte, verglichen mit dem Brandversicherungwert von 200.000 Euro sogar ein richtiges Schnäppchen gemacht zu haben.

Also: Börsianer aufgepasst, wenn es für die nächsten US-Arbeitsmarktdaten am kommenden Freitag wieder einmal eine Außenseiterprognose geben sollte. Dahinter könnte eine Absicht stecken!**

*Amos Tversky; Daniel Kahneman, Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, Science, New Series, Vol. 185, No. 4157. 1974  pp. 1124-1131

**Eine absichtsvolle Außenseiterprognose, selbst wenn sie absurd scheint, hat manchmal nur einen Zweck. Trifft sie auch nur halbwegs ein, stellt das Datum für den Markt keine Überraschung mehr dar. Ansonsten wird sie meist schnell wieder vergessen.

SCHLAGWÖRTER
ÄHNLICHE BEITRÄGE

HINTERLASSEN SIE EINEN KOMMENTAR

Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

Archiv