Politik

Milch für alle

am
9. August 2010

Eigentlich hätte die Meldung eine Welle der Empörung auslösen können, aber es kam nicht dazu. Denn noch bevor die britische Gesundheitsministerin am Sonntagvormittag ihren neuen Sparvorschlag so richtig verbreiten konnte, war er schon wieder vom Tisch. Es ging um Milch. Und zwar um Milch, die für Kinder unter fünf Jahren in Großbritannien in Kindergärten schon seit Jahrzehnten kostenlos zur Verfügung gestellt wird – eine Hilfe, die nach dem Willen der Ministerin ab sofort nicht mehr gewährt werden sollte. Weil sie jährlich (und das mit steigender Tendenz) etwa 50 Millionen Pfund verschlingt. Für die Gegner dieser Idee war es natürlich ein Leichtes, diesen Vorschlag abzubügeln. „Brutale Ministerin reißt wehrlosem Kind Milchflasche aus Mund“ hätte hierzulande wohl die Schlagzeile am nächsten Tag gelautet.

Tatsächlich geht die kostenlose Milchversorgung kleiner Kinder in Großbritannien auf die 1940er Jahre und die Nachkriegszeit zurück, als Nahrungsmittel noch einen  großen Teil der privaten Haushaltsführung ausmachten. Damals war die kostenlose Milchversorgung von Kindergärten und Schulen  zumindest ein Weg, die Minimalversorgung der Jugend des Landes mit Kalzium sicherzustellen. Und weil solch eine staatliche Fürsorge heute nicht mehr vonnöten ist, sollte doch im Zuge allgemeiner Sparsamkeit eigentlich nichts dagegen sprechen, diese Hilfen zu streichen.

Aber die Gegner des Plans führten interessanterweise keine Vorbehalte gegen eine mögliche Mangelernährung der Kinder ins Feld. Vielmehr fanden sie es richtig ungerecht, den Menschen eine so lieb gewonnene Gewohnheit einfach wegzunehmen. Verständlich, denn wenn einem großen Teil der Bevölkerung etwas (noch so Kleines) weggenommen wird, entsteht Verlustaversion ungeahnten Ausmaßes. Unmut, der am Ende sogar Millionen Wählerstimmen kosten könnte, wäre programmiert.

Leider vermisse ich bei der Diskussion einen wichtigen Punkt. Denn mit jeder regelmäßigen Tätigkeit, die in einer Kindergartengruppe oder Schulklasse stattfindet, entsteht am Ende eine soziale Norm, die im späteren Leben einen wichtigen Referenzpunkt darstellt. Auch, wenn man an Milch denkt. Denn Menschen sind unter allen Lebewesen die einzigen, die auch nach der Kindheit Milch – und zwar die Milch anderer Lebewesen –  trinken. Würde jemand, der während seiner Kindheit keine Milch bekommen hat, als Erwachsener Interesse an einem Glas Milch haben? Vermutlich nicht. Deswegen haben derartige, während Kindheit und Schulzeit einmal gesetzte Normen im späteren Leben große Bedeutung. Und wenn solche Normen etwa eine gesunde Ernährung und regelmäßigen Sport reflektieren würden, könnte eine in der Folge viel gesündere Gesellschaft langfristig viel eher zu einer deutlichen Kostensenkung im Gesundheitswesen führen als diese unselige Diskussion um Milch.

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1 Kommentar
  1. Antworten

    Edda

    9. August 2010

    Hallo,
    schönes Thema. Heute ist übrigens der 50. Geburtstag von Jim Knopf, Lukas, Emma, König Rudolf dem Viertelvorzwölften. Und auch dem Scheinriesen. Der immer größer wird, je weiter er weg ist. Da gibt es doch sicher auch einen Bezug zum Finanzmarkt, oder? Habe mir den Kopf zermartert.
    Grüße
    Edda V.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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