Märkte Politik

Falscher Referenzpunkt

am
22. November 2012

Die so genannte fiskalische Klippe (fiscal cliff), die den USA Anfang 2013 drohen könnte, ist in aller Munde und sollte es zu keiner Einigung zwischen dem von Republikanern beherrschten Repräsentantenhaus und dem Senat (mit Mehrheit der Demokraten) kommen, würden automatisch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen in Kraft treten, deren Volumen etwa 650 Mrd. Dollar betragen wird. Und weil dieser Betrag etwas mehr als 4 Prozent des amerikanischen BIP beträgt, rechnet man in diesem Fall für die USA mit einer ausgeprägten Rezession. Kein Wunder also, wenn die Akteure an den Finanzmärkten Angst davor haben, die US-Wirtschaft könne womöglich von der fiskalische Klippe stürzen. Die einzige Lösung ist also ein Haushaltskompromiss, auf den nicht nur Fed-Chef Ben Bernanke hofft, sondern auch die globalen Finanzmärkte. Dabei entsteht irrigerweise der Eindruck, dass mit einem solchen Kompromiss eine Rezession umgangen werden könnte. Ein Optimum, von dem man jedoch nur ausgehen kann, wenn von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen nichts, aber auch gar nichts übrig bliebe – ein Szenario von dem derzeit niemand spricht.

 

Das Zeug zur Katerstimmung

Wenn man also über die fiskalische Klippe und die damit einhergehende Wahrscheinlichkeit einer Rezession spekuliert, sollte man diese auch mit den richtigen Referenzpunkten verbinden. Dabei würde nach gängiger Auffassung das eine Extrem „keine Einigung zwischen Republikanern und Demokraten“ zu einer ausgeprägten Rezession in den USA führen. Das andere Extrem, das zunächst als rezessionsneutral zu werten wäre, würde in der völligen Beseitigung der fiskalischen Klippe bestehen. Danach läge also jeder Kompromiss zwischen diesen beiden Extrema und dürfte demzufolge auf jeden Fall zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Rezession führen. Dennoch würde ein solcher Kompromiss an den Aktienmärkten aus heutiger Sicht beklatscht und gefeiert. Eine Überschätzung, die am Ende durchaus das Zeug zur Katerstimmung hätte.

Dass eine Einigung zwischen Republikanern und Demokraten – und sei es in letzter Minute – für sehr wahrscheinlich gehalten wird, mag auch die Ursache für den nun bereits seit Wochen vorherrschenden Optimismus der mittelfristig orientierten Akteure sein, die die Börse Frankfurt allwöchentlich befragt. Jener ist noch einmal auf ein neues Jahreshoch gestiegen, scheint aber entgegen herkömmlicher Lesart dennoch nicht wirklich bedrohlich. Eine Stimmungsanalyse von Gianni Hirschmüller finden sie übrigens hier, meine Detailanalyse finden Sie an gleicher Stelle unter dem gleichnamigen Reiter.

SCHLAGWÖRTER

19. November 2012

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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