Behavioral Living Wirtschaft

Carlos‘ Kurve

am
16. Februar 2011

Traf kürzlich einen alten Bekannten, einen Investmentbanker. Er sah blass aus. Ich wagte kaum zu fragen, wie es ihm gehe. „Jetzt hat es mich vermutlich auch erwischt, zwei aus unserer Fünfergruppe müssen gehen“, erzählte er mir. Und er begann, in kurzen Zügen sein relativ langes Berufsleben zu schildern. Und ich erinnerte mich daran, wie ich Carlos (Name geändert) als Trainee bei einer Großbank während einer Veranstaltung kennengelernt hatte. Ein junger Mann voller Motivation und Elan war er damals. Und er schien regelrecht an den Lippen seines Chefs zu hängen, der ein rosiges Bild hoher Einkommensmöglichkeiten und noch größerer Boni malte. Ja, das Investmentbanking sei ein Risikogeschäft, betonte er immer wieder, um sofort hinzuzufügen, dass diese Risiken adäquat entlohnt werden müssten. Eigentlich sollte der fixe Bestandteil eines Gehalts nur gerade so zum Leben reichen. Umso höher könne man dann die Erfolgskomponente des Einkommens gestalten. Kurzum: “Wenn Du risikoscheu bist, bist Du im falschen Job“. Es klang, als hätte sich Carlos in der Bank der unbegrenzten Möglichkeiten befunden.

Von Zeit zu Zeit telefonierten wir miteinander. Und Carlos erzählte mir vom ersten Bonus-Tag, den er erleben durfte – aus dem Trainee war ein richtiger Sales-Profi geworden. Nach einem Jahr gab es die erste Bonus-Ausschüttung, an der Carlos angemessen, aber alles andere als großzügig beteiligt worden war. Dasselbe galt mehrheitlich auch für seine Kollegen. Nur zwei von ihnen hatten Glück gehabt und das große Los gezogen. Offensichtlich waren sie nach dem Zufallsprinzip reich belohnt worden, denn ihre Performance hatte – so meinte Carlos – nicht wirklich überzeugt. Aber es sollen ja auch weiche Faktoren bei der Beurteilung berücksichtigt werden. Jedenfalls hatten die beiden einen Superbonus bekommen, der ein Mehrfaches der durchschnittlichen Erfolgsprämie in der Abteilung betragen haben musste, wie mir Carlos versicherte. Das zumindest wollte er einem „vertraulichen Gespräch“ in der Herren-Toilette, das er zufällig belauscht hatte, entnommen haben.

Die Freude über die eigene Ausschüttung war allerdings dahin, und Carlos fragte sich, warum er im Vergleich zu diesen zwei Kollegen den Kürzeren gezogen hatte. An seinem Einsatz konnte es nicht gelegen haben. Auch nicht an der Gewinnvorgabe, denn die hatte er bereits nach zehn Monaten erreicht gehabt. Trotzdem zeigte die gefühlte Zurücksetzung Wirkung. Denn alle in der Abteilung, die nicht so reich bedacht worden waren, und auch mein Bekannter legten sich noch mehr ins Zeug, um wenigstens im kommenden Jahr eine reelle Chance auf den Superbonus zu bekommen. Darin ähnelte ihr Verhalten dem eines Anlegers, der sich im Verlustbereich befindet und alles Mögliche anstellt und auch höhere Risiken eingeht, nur um seinen Referenzpunkt zu erreichen.

Carlos stellte fest, dass er noch lange nicht an seine Grenzen gestoßen war. Bei einem Offsite-Wochenende – einmal im Jahr traf sich die ganze Abteilung in der Abgeschiedenheit eines Wellness-Hotels –  lernte Carlos, worauf es wirklich ankam: auf die „total dedication“, die vollkommene  Hintanstellung der eigenen Interessen zugunsten der des Arbeitgebers. Wenn es sich bis dahin noch um ein normales Commitment gehandelt haben mag, konnte man spätestens jetzt von einem eskalierten Einsatz sprechen, stets verbunden mit der Hoffnung, dass am Ende als Belohnung vielleicht der Superbonus winkte. Im dritten Jahr hatte es Carlos dann geschafft. Als wir uns trafen, blickte er mir triumphierend ins Gesicht: „Dir gegenüber sitzt ein Gewinner.“ Mit diesen Worten begrüßte er mich. Selbstverständlich beglich er an diesem Abend die Rechnung.

Wie es in Carlos‘ Leben seitdem weiterging, ist schnell erzählt. Auf der materiellen Haben-Seite sind  drei teure Schlitten, ein freistehendes Haus Marke „Schloss“ (natürlich noch lange nicht abbezahlt, wodurch sich das Commitment noch einmal erhöht) und diverse Status-Accessoires festzuhalten. Auf der menschlichen Ebene schlugen eine Heirat, zwei Kinder und am Ende eine Scheidung zu Buche. Weil Carlos‘ ganze Hingabe seiner wahren Liebe galt, mit der er eine viel intensivere Beziehung eingegangen war als mit seiner Ehefrau und für die er auch deutlich mehr Zeit aufbrachte. Es folgten sein Burnout und der Versuch eines Neuanfangs.

Nun stand Carlos fassungslos vor mir: „Ich habe wirklich alles gegeben, habe mich selbst ständig optimiert und jetzt will man mich aus meiner Familie einfach so verstoßen! Ist das nicht ungerecht?“

Ich schwieg, denn ich war mir nicht sicher, ob sein Vorwurf berechtigt war. Dafür, dass er alles gab, hatte er ja auch seine Risikoprämie bekommen. Das war der Deal. Aus Sicht eines homo oeconomicus ein faires Geschäft – oder?

SCHLAGWÖRTER
ÄHNLICHE BEITRÄGE

HINTERLASSEN SIE EINEN KOMMENTAR

Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

Archiv