Behavioral Living

An der Wurzel gepackt

am
23. September 2014

Nein, es geht heute nicht um ein Grundübel an den Finanzmärkten, derer es genügend gibt. Vielmehr musste ich gestern ganz schnell zum Zahnarzt. Bei der geringsten Berührung des Brückenzahns hinten rechts hatte ich Schmerzen, Schmerzen und noch mal Schmerzen. Und nach einer Röntgenaufnahme stand fest: Wieder einmal war eine Wurzelbehandlung fällig. Da wurden alte Erinnerungen wach.

Damals, vor einigen Jahren, in ähnlicher Angelegenheit, verzichtete ich auf eine lang anhaltende Betäubungsspritze, die ich wegen eines Interviews überhaupt nicht gebrauchen konnte. Ich entschied mich stattdessen für die schmerzhafte Prozedur. Ich könne ja eine Pause machen, wenn es zu anstrengend würde, bot mir der Doktor seinerzeit an. Drei Mal bat ich um Unterbrechung. Die Sprechstundehilfe fragte mich jedes Mal mit mitfühlender Miene: „Wollen Sie spülen?“, was ich natürlich gerne bejahte.

Am Ende war ich fix und fertig. Und mein Zahnnerv vermutlich auch.

 

Bei Schmerzen keine Pause, bitte!

Obgleich ich meinen Zahnarztbesuch unter dem Strich als vergleichsweise optimal empfunden hatte, sind die beiden Professoren für Marketing, Leif Nelson und Tom Meyvis* von der New York University zu dem Schluss gekommen, dass ich mein Wohlbefinden entgegen aller Intuition, noch hätte deutlich steigern können.

Es gilt weithin als gesichert, dass sich Menschen meist ausgesprochen schnell an neue Situationen – gute wie schlechte – anpassen können. Neue Erlebnisse, Schmerzen und Schönes, werden anfangs am stärksten, aber mit fortschreitender Zeit und gleichbleibendem Reiz mit abnehmender Intensität wahrgenommen, wir gewöhnen uns. Pausen sorgen jedoch dafür, dass dieses Gewöhnungsniveau wieder auf seinen Ausgangspunkt zurückgesetzt wird und eine Wiederaufnahme des Reizes demzufolge wieder in voller anfänglicher Stärke empfunden wird.

Für meinen Zahnarztbesuch hätte dies bedeutet, dass ich entgegen meiner Intuition, womöglich auf Pausen hätte verzichten sollen. Pausen, die mir zwar ein paar schmerzfreie Sekunden und kurze Erleichterung einbrachten. Aber mit jedem Wieder­einsetzen des Bohrers, hatte ich Lärm und Schmerz wieder in der anfänglichen Stärke wahrgenommen. Um unser Wohlbefinden zu erhöhen, sollten wir also auf die abnehmende Sensitivität bei gleichbleibend negativen Sinnesreizen setzen.

Noch besser ist es, sich gar nicht erst auf eine solche Episode einzulassen, indem man sich (wie ich gestern) eine Betäubungsspritze geben lässt. An die vier Einstiche konnte ich mich jedoch, trotz der Aussicht auf eine schmerzfreie Behandlung, allerdings nicht schnell genug gewöhnen.

 

* Nelson, Leif D. and Meyvis, Tom (2008): Interrupted Consumption: Adaptation and the Disruption of Hedonic Experience, Journal of Marketing Research, Vol.45, pp.654-664, December 2008

SCHLAGWÖRTER
ÄHNLICHE BEITRÄGE
3 Kommentare
  1. Antworten

    Der Privatier

    24. September 2014

    Auf den zweifelhaften Genuss einer Wurzelbehandlung konnte ich bisher Gott sei Dank verzichten. Dennoch kann ich die Erfahrung, dass unangenehme Wahrnehmungen nach einer Pause um so schlimmer erscheinen, durchaus betätigen.
    Ich habe dies bei meinem ersten (Halb-)Marathon bemerkt, den ich mit zu wenig Training im Vorfeld und zudem bei großer Hitze gelaufen bin. Und so war ich über jede Verpflegungsstation froh, an der ich zumindest eine kurze Erholungspause einlegen konnte: Ein paar Schritte gehen, etwas trinken, kurze Pause für die Muskeln. Wunderbar!
    Um so schlimmer dann der Neustart. Da läuft nichts mehr. Der Rhythmus ist hinüber. Das Tempo muss erst wieder gefunden werden. Irgendetwas schmerzt. Nach 2-3 Kilometern geht es dann wieder.
    Aber nach 3-4 km kommt wieder die nächste Möglichkeit, eine Pause zu machen. Ich glaube, es war die vierte Station, die ich aufgrund der ersten Erfahrungen dann lieber ausgelassen habe.
    Und es im Nachhinein auch wieder bereut habe. Denn bei einer solchen Hitze nicht ausreichend zu trinken, ist auch nicht ideal.
    Fazit: Wie man es macht, macht man es falsch.
    Vielleicht sollte ich mir beim nächsten Mal auch vorher eine Betäubungsspritze geben lassen…

    Gruß, Der Privatier

  2. Antworten

    Maria Lenz

    25. September 2014

    Sind wir ehrlich ein Zahnarztbesuch ist immer unangenehm, doch ich finde diese Situation, die wir gerade mitmachen müssen auch unangenehm, manchmal kann ich Nachts schon nicht mehr schlafen vor lauter Angst was da kommt!

HINTERLASSEN SIE EINEN KOMMENTAR

Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

Archiv