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15. November 2010

Kürzlich jammerte mir eine alte Dame vor, wegen der niedrigen Zinsen habe sie in den vergangenen Jahren immer weniger Taschengeld zur Verfügung gehabt. Jetzt seien auch die letzten Anleihen mit einem Kupon von 4 % p. a. fällig geworden. Was waren das noch für Zeiten, als sie sich von ihren jährlichen Zinserträgen immer etwas Schönes hatte leisten können.

Ein typischer Fall von mentaler Kontoführung, dachte ich mir. Nach dem Motto: „An das Kapital gehe ich nicht ´ran, denn das benötige ich ja noch für später. Aber die Zinsen darf ich verbrauchen.“ Während eine Minderung des Kapitals als Verlust empfunden würde, wird mit jeder einzelnen Zinszahlung ein mentales Konto eröffnet, das, egal, wie gering die Zinseinnahme ist, als Gewinn erlebt wird. Und diesen zu verbrauchen, bereitet selbst konservativ eingestellten Menschen meist kein schlechtes Gewissen. Dabei wird tunlichst übersehen, dass die Geldentwertung, für die der Zins zumindest teilweise einen Ausgleich darstellen soll, sich langsam, aber unbemerkt ins Kapitalkonto hineinfrisst. Das bedeutet: Für das gleiche Geld wird man über die Jahre immer weniger kaufen können.

Heute ist bei den niedrigen Zinsen guter Rat teuer. Unterstellt man nämlich, dass man etwa aufgrund deflationärer Tendenzen für sein Geld künftig eigentlich mehr bekommen müsste, könnte die alte Dame von oben ihre mageren Habenzinsen durch eine Entnahme vom Kapitalkonto aufbessern. Abgesehen von der Praktikabilität, sprächen sich sicher viele Menschen voller Entrüstung gegen ein derartiges Ansinnen aus. Denn das Kapitalkonto darf nicht angegriffen werden, würde man zu hören bekommen. Jede Entnahme käme einem Verlust gleich, und gegen diesen hegen wir alle bekanntermaßen eine Aversion.

Stattdessen bitten wir den Kundenberater unserer Hausbank, uns doch ein Produkt zu empfehlen, das uns auf der Einnahmenseite zumindest ein bisschen an die guten alten Zeiten denken lässt. Zinsen so wie früher, mit denen man so richtig schön shoppen gehen kann. Gerne überhören wir dabei den nebenhin geäußerten Hinweis des Kundenberaters, dass mit höheren Erträgen auch bestimmte Risiken eingegangen werden müssen. Risiken, die noch in ferner Zukunft liegen, aber im schlimmsten Fall richten sie genau das an, was wir heute um jeden Preis vermeiden wollen: die Minderung unseres Kapitals.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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