Behavioral Living Investmententscheidungen

Lieber leben als zurücklegen

am
2. Mai 2014

Theoretisch ist es den meisten Menschen klar, dass sie Geld für die Zukunft zurücklegen sollten. In der Praxis ist die Sache allerdings komplizierter, denn niemand weiß, wie sich aus heutiger Sicht Gewinne oder Verluste in der Zukunft tatsächlich anfühlen werden.

Unter dem Thema „Lieber leben als zurücklegen – ist uns unsere Zukunft egal?“

wird im Rahmen der Verleihung des comdirect finanzblog award 2014 (Näheres hier) am 6. Mai 2014 um 15.30 Uhr auf der re:publica 14 in Berlin eine Podiumsdiskussion stattfinden, zu der auch ich als Teilnehmer eingeladen bin. Deswegen zur Einstimmung ein paar Gedanken zu meiner Position.

Man kennt es ja zu Genüge: Gerade hat man sich dazu durchgerungen, ein paar Winterpfunde loszuwerden und wollte deswegen gleich morgen mit einer Diät beginnen. Doch gleich am nächsten Tag gibt es die erste Hürde: Freunde haben einen zum Abendessen eingeladen, und nun möchte man ihre Gastfreundschaft nicht beleidigen, indem man ihr köstliches Mahl verschmäht und stattdessen die Dose mit dem Diätpulver auspackt. Anders ausgedrückt: Menschen unterschätzen, dass sich Gedanken, Erinnerungen, Sichtweisen, Vorlieben im Zeitablauf ändern können. In der klassischen Ökonomie kommen solche Präferenzverschiebungen und Gewöhnungsprozesse schlichtweg nicht vor, in der Realität aber schon.

Die Standardökonomie geht davon aus, dass Menschen etwas Angenehmes umso höher bewerten, je früher es eintritt. Ein Geldgeschenk in Höhe von 1000 Euro ist uns heute lieber, als wenn wir es erst in einem Monat bekämen. Unangenehmes wird dagegen hinausgeschoben. Im klassischen Fall nimmt der Nutzen eines Geldgeschenks an jedem Tag, den seine Überreichung weiter in die Zukunft geschoben wird, mit einer prozentualen, konstanten Rate ab, er wird diskontiert. Um einem Entscheider eine spätere Auszahlung schmackhaft zu machen, muss man ihm also in der Zukunft einen höheren Betrag in Aussicht stellen, als er heute erhalten würde. Und zwar vermehrt um einen persönlichen Diskontfaktor.

Gemäß diesem Modell spielt es für einen Entscheider also keine Rolle, ob er heute 1.000 Euro bekommt oder 1.100 Euro ein Jahr später, also 1.000 plus einen Betrag in Höhe seines persönlichen Diskontsatzes. Bei diesem klassischen Modell bleiben Diskontierungsrate wie Präferenzen stabil. Wissenschaftliche Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass weder die persönliche Diskontrate noch die Präferenzen stabil sind. Wer 1.100 Euro in 30 Wochen einem Geldbetrag von 1.000 Euro in 26 Wochen vorzieht, sollte sich genauso verhalten, wenn er vor die Wahl gestellt würde, 1.000 Euro heute oder 1.100 Euro in vier Wochen zu bekommen. Obwohl die zeitliche Distanz in beiden Fällen die gleiche ist, findet in der Praxis meist eine Präferenzumkehr statt: Mit einem Male entscheiden sich viele Menschen vorzugsweise für den niedrigeren, sofort ausgezahlten Geldbetrag und lassen dafür den 10 Prozent höheren Betrag, den sie erst vier Wochen später erhielten, dafür liegen.

In einer Welt, in der die Nominalzinsen hoch sind, mag Sparen für das Alter attraktiv erscheinen. Obwohl man weiß, dass die Geldentwertung via Inflation und Besteuerung einen großen Teil der Zinserträge wieder auffrisst, wird ein nominal hoher, künftiger Zinsertrag zumindest von den meisten Sparern als so genanntes „geistiges Konto“ parallel in ihrem Kopf mitgeführt, und das ist eine Strategie, die hilft, den „Schmerz“ über die in der Gegenwart aufzubringenden Sparraten zu mildern.

 

Reallohnverluste vermindern Sparleistung

Fallen diese nominalen Erträge jedoch aufgrund des heutigen Niedrigzinsumfeldes extrem gering aus, ist es vielen Menschen nicht mehr zu vermitteln, warum man für einen Verzicht in der Gegenwart auf minimale Gewinne in der Zukunft sparen soll. Das mentale Zinskonto ist nicht mehr hoch genug. Mit anderen Worten fragt man sich: „Wofür soll ich eigentlich sparen, ich bekomme ja eh‘ nichts dafür? Oder soll ich gar eine risikoreichere Anlage wählen, um in der Zukunft abgesichert zu sein?“

Viele dieser risikoreicheren Anlagen kommen für die meisten Menschen allerdings nicht mehr in Betracht. Sei es, dass man bereits schlechte Erfahrungen an der Börse gemacht oder mit Produkten, die während der Finanzkrise noch mit Hochdruck verkauft wurden, am Ende Schiffbruch erlitten hat. Oder liegt es etwa daran, dass viele Sparer in gewissem Sinne in Sachen Geld immer noch ökonomische Analphabeten sind? Abgesehen davon, dass sie sich ihrer eigenen Verhaltensmuster ebenso wenig bewusst sind.

Daneben kommt aber noch ein anderer Faktor zum Tragen, der zurzeit in der gesellschaftlichen Diskussion in den USA eine wesentliche Rolle spielt und manchmal auch in Europa thematisiert wird. Gemeint ist die sich immer weiter verstärkende Ungleichverteilung der Vermögen und Einkommen zwischen Arm und Reich, vor allem durch die Finanzkrise und die späteren Rettungsmaßnahmen der Notenbanken. Während nur das oberste Prozent – vor allem aber das oberste Promille – der Bevölkerung sowohl bei Einkommen als auch Vermögen noch reale Zuwächse verzeichnen kann, kann dies von 95 Prozent der Haushaltseinkommen der US-Bevölkerung nicht mehr behauptet werden. Reallohnverluste in der Gegenwart müssen entweder durch Konsumverzicht oder durch eine geringere Sparleistung ausgeglichen werden – ein Trend, der sich auch hierzulande immer mehr abzeichnet. Gleichzeitig herrscht weiterhin ein gnadenloser Wettbewerb um den sozialen Status. Aus Angst vor dem Abrutschen auf eine niedrigere gesellschaftliche Position werden monetäre Mittel verstärkt benötigt, wodurch es immer schwerer wird, Rücklagen zu bilden.

Unsere Zukunft ist uns sicherlich nicht egal, aber die Gegenwart ist uns wichtiger. Nicht einmal um eines besseren Lebens willen, sondern vielfach nur um zu überleben.

SCHLAGWÖRTER
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2 Kommentare
  1. Antworten

    Investment Club boersentrendsAT

    6. Juni 2014

    Mit der Leitzinssenkung auf 0,15% fallen die Zinsen für Sparer nochmal.
    Wird Zeit sich alternative Investments zu suchen.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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