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Falsche Ehrfurcht vor der schwarzen Null

am
4. November 2014

Ob nun auf dem Thermometer oder in der Welt des Geldes – für viele Menschen spielt die Null eine ganz wichtige Rolle. Für manche ist sie die Trennlinie zwischen Gut und Böse, könnte man meinen. Auch für den deutschen Finanzminister Schäuble ist die Null offenbar ein so wichtiger Referenzpunkt, dass er für sie die merkwürdigsten Verrenkungen vollführen und alle erdenklichen Opfer erbringen möchte. Da spielt es keine Rolle, dass unlängst die Wachstumsprognosen für die Eurozone zurückgenommen worden sind. Man kann es ja auch verstehen; schließlich hat er die historische Chance, zum ersten Mal seit 1969 als Finanzminister einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Mit einer schwarzen Null sozusagen hätte er das Zeug, in die Geschichtsbücher einzugehen. Notfalls muss dafür eben gespart werden.

In der Bankenwelt scheint man anders zu denken. „Wir Deutsche sparen zu viel“ war unlängst in der „Welt am Sonntag“ ein Interview mit dem Chefanlagestrategen der Deutschen Asset & Wealth Management, Asoka Wöhrmann, überschrieben. Man dürfe keine Angst vor Nullen haben, konnte man da lesen, und dem geneigten Leser wurde unvermittelt klar: Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis auch die Sparbücher der Normalverbraucher mit Strafzinsen belegt werden. Vorbei ist es also mit dem zuletzt noch winzigen Taschengeld, mit dem sich der ein oder andere zumindest aus den jährlich erwirtschafteten Mini-Zinsen eine kleine Extraanschaffung leisten konnte. Immerhin: Auch das haben wir zwar mürrisch, aber letztlich doch fast klaglos hingenommen. Weil die Zinseinnahmen stets als Gewinn erlebt wurden. Und diese Gewinne zu verbrauchen verursacht selbst bei konservativ eingestellten Menschen nicht sofort ein schlechtes Gewissen.

Mental wurde – obgleich die Zinszahlung teilweise als Inflationsausgleich für die Entwertung des gesparten Kapitals dienen soll – in zwei Konten gedacht: eines fürs Kapital und eines für die Zinsen. Selbst wenn das Kapital real eigentlich weniger wurde – es gab ja Zinsen. Damit ist jetzt Schluss. Jetzt geht es für viele Sparbuchbesitzer nicht nur real ans Eingemachte.

Ich wage schon jetzt eine Prognose: Ein Viertelprozent Strafzinsen werden von den Anlegern doppelt so stark bewertet werden wie ein Viertelprozent Habenzinsen. Verluste, so die Erkenntnisse der Behavioral Finance, wiegen schwerer als Gewinne gleicher Größe. Aber nicht nur das. Denn wenn die Europäische Zentralbank auf die Idee käme, auf die bei ihr unterhaltenen Einlagen noch höhere Negativzinsen als bereits jetzt zu fordern, könnte es sogar noch schlimmer kommen. Ein halbes Prozent Strafzinsen p. a. für Kleinsparer? Hatte man uns nicht immer wieder gepredigt, bei null Prozent Zinsen sei Schluss nach unten, das sei so etwas wie eine rote Linie?

 

Referenzpunkt Null

Diese ominöse Null ist für uns nicht nur ein materielles, sondern auch ein psychisches Problem. Und eine Frage der Wahrnehmung. Denn die Null ist ein leicht zu merkender Referenzpunkt. So wie ein DAX bei 10.000 Zählern. Zu Zeiten, als es noch für zehnjährige Anleihen vier Prozent Zinsen p.a. gab, haben sich viele Menschen nicht die Frage gestellt, wie weit das investierte Kapital einer schleichenden Entwertung unterworfen wäre. Man hat es einfach nicht gemerkt.

Eine gleich hohe „Realverzinsung“ unterstellt, fällt es uns nunmehr sehr schwer, für eine Extraausgabe das Kapital angreifen zu müssen. Obgleich man bei fallenden Konsumentenpreisen theoretisch mehr für sein Kapital bekommen würde, eine schleichende Aufwertung also. Aber es will uns nicht einleuchten, dass man in Bälde etwas davon abgeben soll, ohne etwas davon zu haben. Ganz zu schweigen von all den institutionellen Anlegern, die auf Ausschüttungen angewiesen sind oder aus rechtlichen Gründen ihr Kapital (z. B. Stiftungen) nicht angreifen dürfen.

 

Achtung, Fehlentscheidungen drohen!

Die Konsequenzen sind für Privatanleger vielfältig und möglicherweise schwerwiegende Fehlentscheidungen schon jetzt absehbar. Sei es, dass man seine liquiden Mittel ganz einfach abhebt und unter die Matratze steckt. Ja, das kann ziemlich riskant sein. Vor allem, wenn man auch noch in der Nachbarschaft herumerzählt, wie man der Bank ein Schnippchen geschlagen hat. Als viel gravierender erachte ich aber die Suche nach Anlageformen, die man unter normalen Umständen nie in Betracht gezogen hätte. Ja, drei, vier oder gar fünf Prozent p. a.! Das sieht ja noch ganz toll aus im Vergleich zu Negativzinsen. Diese drei, vier oder fünf Prozent bekommt man allerdings nicht, ohne entsprechende Risiken einzugehen. Aber das wieder besser gefüllte mentale Zinskonto ermöglicht dann immerhin den Luxus einer Extraausgabe. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines kräftigen (Total)verlustes auf dem Kapitalkonto dabei erheblich größer als bei einer altmodischen Sparform ist. Soll man jetzt überhaupt noch fürs Alter sparen, wo man fürs Sparen doch bestraft wird? Aber einfach drauflos konsumieren, selbst wenn man es sich leisten könnte? Das macht ja auch der Herr Schäuble nicht.

Wir werden uns umgewöhnen müssen in einer Zeit drohender Deflation. Es geht nicht mehr darum, wo ich die meisten Zinsen bekomme. Vielmehr sollte man den Sachverhalt einfach anders darstellen (Reframing) und sich stattdessen fragen, wo man am wenigsten bluten muss. Eine Anlageform, die langfristig nur das Kapital erhält, ist unter diesen Umständen vielleicht gar nicht so schlecht. Deswegen sollte man sich auch nicht ärgern, wenn man demnächst bei den Ersparnissen für die private Altersvorsorge selbst bei seinem Lebensversicherer gesetzlich garantiert nur noch null Prozent bekommt. Das ist dann, relativ gesehen, immer noch ganz gut.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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