Märkte

Ich weiß nichts, also bin ich – Experte

am
29. April 2014

Ich traf kürzlich einen guten Bekannten, der gelegentlich Analysen zum Aktienmarkt erstellt. So auch zum DAX, wobei er sich darüber mokierte, dass so viele seiner Kollegen bearish in Hinblick auf deutsche Standardwerte eingestellt seien. Man könne die Crash-Angst im Aktienmarkt förmlich riechen, sagt er. Skepsis, wo immer man auch hinsehe. Und das, obwohl das Börsenbarometer in der vergangenen Woche gar nicht einmal so weit weg von seinem Allzeithoch gewesen sei. Wie ich blickt auch mein Bekannter gerne auf Stimmungsindikatoren. Und diese zeugen derzeit nicht gerade von Optimismus unter den Anlegern. Ein Grund mehr also, deutsche Aktien vorsichtshalber nicht zu verteufeln. Ja, so fuhr mein Bekannter fort, man könne für den DAX zumindest neutral, höchstwahrscheinlich sogar bullish sein, wäre da nicht der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Wie das ausgehe, das könne ja momentan niemand vorhersagen, fügte er, der sich gerne als Politik-Experte bezeichnen lässt, mit sorgenvoller Miene hinzu. Wenn es da negative Überraschungen gäbe, könnte womöglich doch noch ein Crash kommen.

 

Krise als Ausrede

Mit anderen Worten: Normalerweise wäre mein Bekannter bullish, aber er ist einer von der vorsichtigen Sorte. Wie alle anderen Börsianer derzeit auch, die mittlerweile gelernt haben, dass man sich an den Finanzmärkten schnell an Krisengeschichten gewöhnt und neue Entwicklungen in der Ukraine daher nur dann Niederschlag in den Kursen finden, wenn sie sich deutlich von den vorherigen Nachrichten abheben. Aber ein gewisses Restrisiko bleibt zweifellos bestehen, weil niemand von uns in die Zukunft blicken kann. Eine beliebte Hilfskonstruktion ist daher der Blick zurück auf vergangene Krisen, Kriege und Konflikte. Aber die Geschichte kennt keine identischen Wiederholungen.

Und eigentlich sollten wir es doch auch gewohnt sein, an den Finanzmärkten Entscheidungen unter Unsicherheit treffen zu müssen. Egal, ob geopolitisches oder anderes Ungemach droht. Dennoch zeigen gerade im Fall der Ukraine viele Anleger und Analysten dafür Verständnis, wenn sich ein Experte oder Analyst momentan nicht festlegen möchte, weil sich die dortigen Ereignisse unserer Kontrolle entziehen. So wollen anscheinend die Meisten nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wenn ihre Börsenengagements und -empfehlungen aufgrund irgendwelcher bösen Überraschungen aus Kiew oder Moskau nicht so laufen, wie man es sich vorgestellt hatte. Genau genommen verschieben sie den locus of control, über den ich erst vor kurzem hier geschrieben habe, auf externe Kräfte und Konstellationen, die man selber nicht beeinflussen kann. Und auf die sich im Zweifel auch persönliches Unvermögen schieben lässt.

Das Ganze erinnert mich an einen meiner früheren Chefs, der mir am Morgen eines Handelstages auf meine Frage, ob ich Dollars kaufen solle, entgegnete: „Ja, aber seien Sie vorsichtig!“ Um mir dann am Abend, nachdem mein Engagement schief gelaufen war, vorzuwerfen, er habe mir doch dringend angeraten, vorsichtig zu sein, und jetzt dieser Verlust. Warum ich denn, verdammt nochmal, nicht auf ihn gehört hätte.

Seit diesem Tag weiß ich, dass man an den Finanzmärkten immer vorsichtig sein muss.

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3 Kommentare
  1. Antworten

    Halli

    2. Mai 2014

    Servus Joe,
    kann es sein, dass ich den „erwähnten, früheren Chef“ kenne. Herr S.?
    Ciao
    Halli

    • Antworten

      Joachim Goldberg

      7. Mai 2014

      Ja 😉

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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