Märkte Wirtschaft

Belcanto und Börse

am
22. April 2015

Das Kunsterlebnis, so lehrt der Philosoph Kant, soll uns vorübergehend aus der Welt der Zweckmäßigkeit, des Gewinnstrebens und der Nutzenmaximierung entführen und vielmehr unser „interesseloses Wohlgefallen“ wecken, uns für einen Moment innehalten lassen. Bis vor ein paar Tagen glaubte auch ich, dass mich gelungene Opernaufführungen und die Beschäftigung mit dieser Welt aus dem Börsenalltag entführen könnten. Zumal ich als Späteinsteiger in dieses Sujet noch so viel Neues wahrnehmen und erleben darf, dass jeder Komponist und jedes Werk aus jener Zeit meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.

Und da Anfang Juni in Halle die Händelfestspiele stattfinden werden und ich mich schon jetzt auf den Genuss mehrerer Aufführungen freue, begann ich vor wenigen Tagen, mich ein wenig intensiver mit Leben und Werk des neben Johann Sebastian Bach wohl bedeutendsten Komponisten des Barock zu beschäftigen.

Aber ich staunte nicht schlecht, als ich in der Händel-Biografie von Christopher Hogwood las, dass Händel ab dem Frühjahr 1719 auch als Opernunternehmer tätig war, die Leitung der Royal Academy of Music übernahm und ein Jahr später sogar einen formalen Antrag auf die Gründung einer Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 10.000 englischen Pfund stellte. Wenn ich an das Jahr 1720 denke, fällt mir natürlich fast sofort die große Spekulationsblase ein, die in jenem Jahr geplatzt war. Die Rede ist vom so genannten „South Sea Bubble“ und der South Sea Company, wobei ich mir immer schon die Frage gestellt habe, was die Investoren seinerzeit dazu veranlasst haben mag, Aktien von Gesellschaften zu zeichnen, deren konkrete Zielsetzung gemäß Satzung darin bestand, „etwas Großartiges zu schaffen“.

 

Arien treiben Kurse

Offensichtlich muss es damals ein richtiges Börsenfieber gegeben haben, denn auch die Opernaktien von Georg Friedrich Händel wurden mit viel Volatilität an der Londoner Börse gehandelt. Konnte man auch mit den Aktien einer Operngesellschaft tatsächlich reich werden? Damals war der Falsettgesang in Mode, so dass die Opernhäuser regelrecht darum wetteiferten, die bedeutendsten Kastraten engagieren zu können. Und der Aktienkurs von Händels Opern-AG reagierte anscheinend genauso auf Neuigkeiten wie die Papiere heutzutage. So soll etwa in einer Notiz aus The Theatre vom 8. März 1720 zu lesen gewesen sein[1]: „Bei der Probe am vergangenen Freitag übertraf Signor Nihilini Beneditti seine bisher bekannte Tonhöhe um einen Halbton. Die Opernaktien standen auf 83einhalb, als er begann, auf 90, als er endete“– Da musste ich doch schmunzeln. Wo doch im Sommer 1720 die Aktien der South Sea Company einen massiven Kurssturz hinnehmen mussten. Ein Crash, der nicht ohne Folgen für Londons Gesellschaft und die großen Banken bleiben sollte. Großaktionäre verschwanden, Direktoren wichtiger Banken gingen bankrott, irgendwie waren alle vom Börsencrash betroffen.

Dennoch: Trotz des Zusammenbruchs der South Sea Company machte die Operngesellschaft Händels weiter. Im November 1720 begann die zweite Spielzeit in bester Besetzung. Und die Gage des ersten Sängers, besetzt vom Kastraten Francesco Bernardi Senesino, soll sogar trotz des Aktiencrashs immer noch 2000 Pfund pro Jahr betragen haben! Mit anderen Worten: Gesungen wird immer.

Dass wir von Börsenfieber am deutschen Aktienmarkt noch ein gute Stück entfernt sind, zeigt auch die jüngste Sentiment-Umfrage der Börse Frankfurt, die ich dieses Mal HIER kommentiert habe. Immerhin sind die Barockopern – heute oft mit großartigen Countertenören besetzt – derzeit wohl genauso gut besucht wie vor knapp 300 Jahren.

 

[1] Hogwood, Christopher (2000): Händel, eine Biographie, Insel Verlag Frankfurt und Leipzig, S. 140

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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