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Himmlischer Mehrwert

am
31. Januar 2012

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, in einer Frankfurter Kirche einem Streitgespräch zwischen Professor Paul Kirchhof, dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter, und dem früheren Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Professor Wolfgang Huber, zuhören zu dürfen. Es ging um das Ende der Institutionen und über die schleichende Zerstörung von Staat und Kirche. Und beinahe zwangsläufig wandte sich das Gespräch bald dem Thema „Krise“ zu, der Leerformel für alle Probleme der Gegenwart.

Der Urheber der Krise war schnell ausfindig gemacht:  die „anonymen, verschleierten“ Finanzmärkte. Kein Wunder, dass die Gesprächsrunde sich auch mit den Spekulanten beschäftigen musste, unter denen es, so lernte ich an diesem Abend, gute und schlechte gibt. So steht auf der einen Seite der brave Unternehmer, der Gebrauchsgüter produziert und daher auch –  in einem gewissen Rahmen, versteht sich – einen Mehrwert erzielen darf. Aber auf der anderen Seite lauern die bösen Hedgefonds mit ihren obskuren Derivaten und Hebeln, von denen der einfache Anleger ohnehin nichts versteht. Und, ganz schlimm: die Lebensmittelspekulation einiger Fonds  – bei der Vorstellung des durch höchst spekulative Warentermingeschäfte verursachten Hungers machte sich Betroffenheit auf vielen Gesichtern unter den Zuhörern breit.

Was mir bei all diesen Diskussionen immer wieder negativ auffällt, ist die Unfähigkeit der Experten, dem durchaus wissbegierigen und – wie Paul Kirchhof betonte – keineswegs dummen Zuhörer „die Finanzmärkte“ verständlich zu erklären. Dabei handelt es sich nämlich keineswegs um gefräßige Monster, wie auch Hedgefonds keine geldfressenden Heuschrecken sind, die irgendwo in den Nebeln von Avalon ihr Unwesen treiben. Einzig die Moderatorin des Gesprächs, Gundula Gause, warf in einem kurzen Nebensatz ein, dass wir alle selbst doch Teil der Finanzmärkte seien. Und da hat sie zweifellos Recht. Und dieses „Wir“, das können Menschen sein, die den Wert ihres Ersparten zumindest erhalten wollen. Oder andere, die Ausschau halten, wo sie für ihr Geld die besten Zinsen bekommen. Möglichst sogar ein bisschen mehr als die anderen. Und dieses Ausschau halten nach einer günstigen Gelegenheit  haben schon die Römer mit dem Wort speculari umschrieben.

Nein, wir sollten nicht so tun, als ob wir uns mit einer gewöhnlichen niedrigen Verzinsung zufrieden gäben, wenn es irgendwo anders mehr zu verdienen gibt. Außerdem gewöhnen wir uns recht schnell an dieses Mehr, so dass wir bald noch mehr haben möchten, ein Phänomen, das man landläufig als Gier bezeichnet. Und wenn sich diese Gier in Finanzmarktturbulenzen manifestiert, passt es uns womöglich sogar ganz gut in den Kram, wenn diese gierigen Finanzmärkte anonym, „verschleiert“ wirken, das ist nämlich auch eine Tarnung für uns.  Anders ausgedrückt: die Gier des Einzelnen geht auf in einem abstrakten Gebilde, „den Märkten“, deren Auswüchse wir dann mit Fug und Recht verurteilen dürfen.

Und dann landete die Diskussion beim Matthäus-Evangelium 7,12, wo geschrieben steht, jeder solle den anderen wie sich selbst behandeln. Klar, dass man erwartet, im Gegenzug fürs eigene soziale Verhalten etwas zurückzubekommen. In einer Welt jedoch, in der nur noch wenige Regeln für das ökonomische Zusammenleben zu gelten scheinen, liegt eher die Befürchtung nahe, man könne von anderen übervorteilt werden. Und hier genau kommt der christliche Glaube ins Spiel. So hat die Kirche in der Vergangenheit für ethisch korrektes und soziales Verhalten den Lohn Gottes in Aussicht gestellt. Und sei es, dass dieser erst im Jenseits vergolten wird. Vielleicht ist das ein Grund für den Mitgliederschwund bei beiden christlichen Konfessionen: Die Kirche kann den Mehrwert Gottes nicht mehr vermitteln.

Der Ökonom und Nobelpreisträger Thomas  Schelling hat einmal festgestellt, dass Regeln notwendig sind, um egoistisches Verhalten einzudämmen[1]. Regeln, die uns durch die Deregulierung der Märkte während der vergangenen 30 Jahre womöglich tatsächlich abhandengekommen sind. Regeln, deren Grundlage eine Wertewelt ist, die derzeit weder von Staat noch von der Kirche ausreichend repräsentiert werden kann.

 



[1] Schelling, Thomas C. Micromotives and Macrobehavior, New York: W. W. Norton, 1978

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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