Behavioral Living Gesellschaft

Das Los der Armen

am
11. März 2011

Die gestrige einstweilige Verfügung des Landgerichts Köln, dass Hartz-IV-Empfänger in Nordrhein-Westfalen ab sofort nicht mehr an öffentlichen Glücksspielen teilnehmen dürfen, mag mancherorts wie eine Bombe eingeschlagen und für große Empörung gesorgt haben. Von einer Stigmatisierung armer Menschen ist in vielen Internetforen die Rede. Andere wiederum sehen in diesem Verbot die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen massiv beschnitten. Ich möchte nicht darüber befinden, ob die Entscheidung, dass jemand, der soziale Leistungen bezieht, kein Geld für Glücksspiele verwenden darf, richtig ist oder nicht. Auch will ich nicht vor Spielsucht warnen. Die Risiken und Nebenwirkungen von Spielautomaten und Glückslotterien dürften hinlänglich bekannt sein. Schon gar nicht aber möchte ich mich dem homo oeconomicus anschließen, dieser vernunftgesteuerten Spaßbremse. Er, der notorische Besserwisser und Langeweiler, würde einem an dieser Stelle erklären, dass Glücksspiele kein sinnvolles Investment sind, weil sie eine negative Gewinnerwartung haben: Der Einsatz wird der winzigen Chance auf den Jackpot nicht annähernd gerecht. Sie beträgt lediglich 1 zu knapp 140 Millionen.

Allerdings haben die Verhaltensökonomen schon vor Jahren festgestellt, dass die meisten Menschen kleine Wahrscheinlichkeiten wesentlich höher einschätzen, als sie tatsächlich sind. Anders ausgedrückt: Von der Tatsache, dass an jedem Samstag jeder Lottospieler in der Republik glaubt, jetzt sei er aber mal dran, den Jackpot zu knacken, profitiert eine ganze Industrie.

Während die einen also schulmeisterlich erklären, dass Lottospielen irrational sei und deswegen den Geldbeutel der Ärmsten nur unnötig belaste, sollte man gleichzeitig bei aller kühlen Rechnerei nicht vergessen, dass mit dem Ausfüllen des Lottoscheins auch ein Traum gekauft wird. Ein Traum, der einem zumindest für ein paar Stunden in der Woche die Hoffnung vermittelt, vielleicht auf einen Schlag aus dem ganzen Schlamassel herauszukommen. Genau um diese Sehnsucht mag es auch George Orwell gegangen sein, als er in seinem Roman „1984“ beschrieb, was die wöchentliche Lotterie mit ihren riesigen Gewinnen für die Armen bedeutet. Auch wenn die Hauptpreise stets an Personen gingen, die in Wahrheit gar nicht existierten, war die Lotterie der Haupt-, wenn nicht der einzige Grund der Bedürftigen, überhaupt weiterzumachen und nicht an ihrer Not zu verzweifeln.

Diejenigen, die den Ärmsten das Lottospielen verbieten wollen, sei es, um sie zur Sparsamkeit zu erziehen oder um die Kosten für das soziale Netz zu drücken, sollten daher nicht unterschätzen, welchen Sinn und Nutzen kollektiv erlebte Wunschträume und Hoffnungen für benachteiligte Menschen haben können. Auch wenn es nur für ein paar Stunden am Mittwoch und am Samstagabend ist. Und wohl fast immer eine schöne Illusion bleiben wird.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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