Keine Kapitulation der Kanzlerin
Glückwunsch, Frau Merkel, dachte ich zunächst, als sie ein Moratorium von drei Monaten ankündigte, um die geplante Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zu überdenken. Damit würde die im Lichte der japanischen Atomunfälle fehlerhaft erscheinende Entscheidung konsequent zurückgenommen. Ja, ich ließ mich blenden: Sogar die alten und umstrittenen AKW Neckarwestheim I, Isar I und Biblis sollen vom Netz. Was für eine Disziplin! Das hätte jedem Lehrbuch für angehende Händler in den Finanzmärkten zur Ehre gereicht. Im vergangenen Jahr eine Position mit hohem Commitment eingehen (Laufzeitverlängerung), sehen, dass die Dinge nicht so laufen wie beabsichtigt, Verlust realisieren. Fertig.
Dann fiel mir wieder ein, dass Händler normalerweise gar nicht so diszipliniert sind, sondern im Falle eines Verlustes entweder abwarten, bis sie wieder ihren (wahrgenommenen) Einstandspreis erreicht haben. Oder, wenn es überhaupt nicht mehr geht, wenn der psychische oder monetäre Druck so hoch ist, dass sie ihn nicht mehr aushalten können, kapitulieren sie. Kapitulation bedeutet Ausverkauf der Position um jeden Preis. Und deswegen vermeiden es die meisten Akteure tunlichst, diese Notbremse tatsächlich zu ziehen. Nicht nur wegen ihrer Abneigung, einen Verlust realisieren zu müssen. Hinzu kommt nämlich noch die Angst vor dem Bereuen (regret), wenn sich etwa nach einem Ausverkauf der Aktien die Kurse anschließend wieder nach oben bewegen würden. Fragt man Händler, was sie lieber erleben würden: Verkaufen am tiefsten Punkt der Marktentwicklung und einen anschließenden Kursgewinn von 10 Prozent miterleben müssen? Oder nichts tun und einen weiteren Verlust von 10 Prozent in Kauf nehmen? – Obwohl zehn Prozent Verlust mehr sind als 10 Prozent Gewinn, würde sich die Mehrheit der Menschen dafür entscheiden, lieber nichts zu tun: „Die 10 Prozent Verlust machen den Kohl jetzt auch nicht mehr fett“, heißt es landläufig.
Genau diese Notbremse hat auch Frau Merkel nicht gezogen, selbst wenn sich die politischen Kommentatoren die Augen reiben im Angesicht der Geschwindigkeit, mit der sich die Regierung auf das Moratorium geeinigt hat. Aber es ist eben nur ein Moratorium, das heißt: eine Kunstpause, eine Verzögerung. Fast hat es den Anschein, als sei die Kanzlerin bei dieser Strategie von einem Behavioral-Economics-Experten beraten worden. Nicht nur, weil in den kommenden drei Monaten in Deutschland vier von fünf verbleibenden Landtagswahlen dieses Jahres stattfinden. Dank des Moratoriums braucht sie in diesem Zeitraum nicht eindeutig Stellung zu beziehen, ob sie nun in den Atomausstieg wieder einsteigen will oder nicht. Drei Monate stellen außerdem einen Zeitraum dar, in dem man sich an die Ereignisse in Japan – seien sie noch so dramatisch – selbst hierzulande ein wenig gewöhnt haben dürfte. Und die geopferten AKW? Die wird vermutlich manch verloren geglaubter Wähler sogar mental als Gewinn verbuchen. Nein, ich müsste mich schon sehr irren, wenn die Kanzlerin kapituliert hätte.