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Mindestlohn ist nicht nur Fluch für Arbeitgeber

am
7. Januar 2016

Dass das gerade abgelaufene Jahr 2015 auch im Zeichen des in Deutschland nunmehr eingeführten Mindestlohns stand, habe ich zum Beispiel bemerkt, als ich im Sommer mit einem Freund zu den Händel-Festspielen nach Halle reiste. Damals hatten wir mit der Deutschen Bahn AG wieder einmal Schiffbruch erlitten. Gott sei Dank nicht irgendwo auf freier Strecke, sondern in einer Ortschaft, so dass wir angesichts einer angekündigten Wartezeit von mehr als zwei Stunden kurzerhand beschlossen, unsere Reise im Taxi fortzusetzen. Der Kilometerpreis vor Ort sollte 3,10 Euro betragen – für deutsche Verhältnisse ein Rekord. An allem sei nur die Frau Nahles schuld, bedeutete uns der Taxifahrer mit unschuldigem Blick. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro müsse erst einmal erwirtschaftet werden. Und auch andernorts, wo nun die Taxipreise ebenfalls, wenn auch etwas moderater angehoben wurden, jammerten einige Fahrer, in der Zeit vor dem Mindestlohn sei alles besser gewesen. Da hätte man viel besser und vor allem leistungsgerecht verdient. Wer sich angestrengt und viele Fahrten angenommen habe, hätte immerhin einen guten Teil des Umsatzes sein Eigen nennen können. Jetzt verdienten die Faulen genauso viel wie die Fleißigen.

Nun kann man über Mindestlöhne denken, wie man will. Die einen halten sie für einen störenden staatlichen Eingriff in den freien Markt, die anderen für sozial gerechtfertigt. Aber als ich kürzlich hörte, dass das Mindestlohnmodell von seinen Erfindern als Erfolg gefeiert wurde und man aus Gewerkschaftskreisen vernimmt, dass eigentlich ein Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde angemessen sei, dachte ich mir in einer ersten, möglicherweise vorschnellen Reaktion: „Die langen aber ganz schön kräftig hin.“

Nun dann traf ich unlängst einen jungen portugiesischen Ingenieur, der gerade seine Ausbildung mit einem zweiten akademischen Abschluss an einer angesehenen internationalen Hochschule beendet hatte. Wir kamen ins Gespräch, und er sagte mir, er könne von seinem monatlichen Einkommen in Frankfurt kaum leben. Als ich dann erfuhr, dass sein Arbeitgeber ihm vollmundig erklärt habe, er würde immerhin Mindestlohn bekommen und sei daher gut bezahlt, kam ich ins Grübeln. Der Chef hatte seinem Angestellten ein halbleeres Glas für halbvoll verkauft.

 

Anker in beide Richtungen

Schließlich wollte ich es genauer wissen und stieß auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich auf Daten der OECD stützt[1], wonach der in Deutschland eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde etwas mehr als der Hälfte des mittleren Stundenlohns eines Vollzeitbeschäftigten im Jahre 2012 entspricht. Außerdem verweist die Studie auf die wichtige Ankerfunktion für die Lohnstruktur eines Landes oder die Gestaltung von Tarifverträgen. Doch zeigt sich dabei, dass der Mindestlohn bei der Entwicklung von Löhnen in Tarifverträgen nicht nur als Benchmark, also als Lohnuntergrenze und Sicherheitsnetz für Arbeitnehmer, die nicht durch Tarifverträge geschützt sind, fungiert.

Vielmehr bewirkt der Ankereffekt, dass eben nicht nur schlecht verdienende Beschäftigte vor extremer Ausbeutung geschützt werden[2]. Denn der gleiche Anker wirkt auch in die andere Richtung und dürfte dazu führen, dass sich der Stundenlohn vormals besser bezahlter Arbeit nach unten, in Richtung des staatlich festgesetzten Mindestlohns bewegt. Mit anderen Worten: Für manchen Arbeitgeber ist der Mindestlohn nicht nur ein Fluch, sondern auch ein Segen, weil er sich auf ihn als einem als positiv und sozial verantwortungsbewusst geltendem Wert berufen kann. Dann heißt es nicht: „8,50 Euro ist das Mindeste, was ich Dir zahlen muss“, sondern: „Deine Bezahlung orientiert sich an einem anerkannten Standard.“

Zumindest habe ich nicht von großen Entlassungswellen wegen der Einführung des Mindestlohns gehört.

Im Gegenteil: „Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verzeichnet anhaltend kräftige Zuwächse“, beurteilt die Bundesagentur für Arbeit die Entwicklung im vergangenen Jahr[3].

 

 

[1] Studie der Friedrich Ebert-Stiftung: Schulten, Thorsten (Oktober 2014): Contours of a European Minimum Wage Policy

[2] Man bedenke, dass der Mindestlohn in manchen europäischen Staaten unter drei Euro pro Stunde und in manchen Staaten deutlich unter der Hälfte des mittleren Lohnes eines Vollzeitbeschäftigten liegt

[3] Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit Dezember und Jahr 2015, Seite 7

 

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5 Kommentare
  1. Antworten

    rote_pille

    8. Januar 2016

    Dann heißt es nicht: „8,50 Euro ist das Mindeste, was ich Dir zahlen muss“, sondern: „Deine Bezahlung orientiert sich an einem anerkannten Standard.“
    – lol, wirklich? Man MUSS also NICHT? Ach gut, und wozu dann die Kontrolleure, wie passt da die Androhung von Geldstrafen bei Zuwiderhandlung ins Bild? Warum muss der „anerkannte Standard“ mit Waffengewalt verteidigt werden?

    • Antworten

      Joachim Goldberg

      8. Januar 2016

      Vielen Dank für die Anmerkung. Wenn Sie noch einmal nachlesen, werden Sie feststellen, dass ich nicht bezweifle, dass der Mindestlohn tatsächlich bezahlt wird. Aber ich gehe davon aus, dass Arbeit, die eigentlich besser bezahlt werden müsste, sich seit der Einführung eben häufiger am niedrigeren Mindestlohn orientieren dürfte. Die Marke von 8,50 Euro wirkt also wie ein Anker bzw. Magnet.

  2. Antworten

    Hans

    11. Januar 2016

    Ich halte diesen vermeintlichen Effekt für realitätsfremd. Welcher Facharbeiter wird sich mit Hinweis auf die Mindestlohnhöhe denn wohl ernsthaft den eigenen Lohn drücken lassen? Der Arbeitgeber der das versucht, hat bald keine qualifizierten Mitarbeiter mehr. Und andersrum: Wenn ein Arbeitgeber einen Spielraum sieht, die Löhne zu drücken, ohne dass die Mitarbeiter zu einem besser bezahlten Job wechseln, braucht er dazu keine fadenscheinigen Begründungen wie den Mindestlohn sondern hat das im Zweifel schon lange vorher gemacht.

    • Antworten

      Joachim Goldberg

      11. Januar 2016

      Vielen Dank für den Hinweis. Sie haben vollkommen recht, wenn sie an die bestehenden Arbeitsverhältnisse andenken, die gegebenenfalls sogar noch durch entsprechende Tarifverträge abgesichert sind. Ich habe bei meinen Ausführungen jedoch nicht in erster Linie an den deutschen Facharbeiter gedacht, der womöglich im Arbeitsmarkt auch noch stark gesucht ist. Ich denke an diejenigen, die dem Arbeitsmarkt neu zur Verfügung stehen, Branchen die von Personalkürzungen bedroht sind oder auch an Menschen, die nach Arbeitslosigkeit versuchen, wieder in den Markt zu kommen. Ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass manch einer vor die Wahl gestellt wird, entweder eine bestehende Anstellung verlieren oder unter anderen Bedingungen zu erheblich niedrigeren Einkommen (etwa in einer Auffanggesellschaft) arbeiten zu müssen. Darüber hinaus sind Ankereffekte nicht nur im Arbeitsmarkt möglich, sondern sind in vielen anderen Bereichen des Lebens wissenschaftlich nachgewiesen.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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