Behavioral Living Gesellschaft

Irgendwo in Amerika

am
5. November 2015

Vor einigen Jahren hatte mir einer meiner früheren Kollegen von einem Familientreffen erzählt – einer Story, wie sie sich überall auf der Welt hätte zutragen können. So verbrachte K. damals mit seinen beiden Geschwistern und deren Kindern einige Zeit im Hause seiner Eltern, irgendwo in den Vereinigten Staaten. Ich konnte mir richtig gut ausmalen, wie er sich im Hochgefühl des Urlaubs auf der Couch vor dem Fernseher räkelte, als seine ältere Schwester ins Wohnzimmer rauschte und ihn fast schon tadelte: „Du fauler Sack. Komm, steh‘ auf! Lasst uns alle etwas Nettes unternehmen und zum Aquapark fahren“. Obwohl K. keine besondere Lust hatte, seinen bequemen Platz auf dem Sofa gegen einen wahrscheinlich anstrengenden, zweitägigen Familienausflug inklusive Übernachtung einzutauschen, riss er sich zusammen und unterwarf sich brav der Familienräson.

Eigentlich hatten alle schon eine böse Vorahnung, als es losgehen sollte. Denn im recht weit entfernt gelegenen Aquapark waren sie schon im vergangenen Jahr einmal gewesen – aber richtig toll war es nicht. K‘s Schwester hatte ihre Gefolgsleute indes gut im Griff. Eine Rebellion anzuzetteln wäre zwecklos gewesen. Und so schlossen sich die anderen Familienmitglieder, vielleicht auch, um die große Schwester nicht zu verärgern, widerspruchslos deren Vorschlag an. Irrigerweise schien jeder zu glauben, die Entscheidung sei ohnehin schon längst gefallen. Am Ende war es also der vermeintliche Konsens (Illusion of consensus), der die Familie wider alle Bedenken in Richtung Aquapark aufbrechen ließ.

Schon kurze Zeit später kam, was einfach kommen musste. K‘s Vater fühlte sich schon bei der ersten Rast in einem so genannten familienfreundlichen Restaurant über den Tisch gezogen, weil die Portionen zu klein waren. Auch dauerte es nicht lange, bis die altbekannten Rivalitäten zwischen den Geschwistern wieder aufbrachen. Schließlich weigerte sich K‘s Mutter, einen Badeanzug anzuziehen, die Kinder hatten Angst vor der großen Wasserrutsche und die Warteschlangen waren schier endlos. Und am Abend erlitt die große Schwester beim Kochen im Appartement wegen des ganzen Stresses auch noch fast einen Nervenzusammenbruch.

Der Ausflug endete zu niemandes Überraschung in einem Desaster. Dass die Sterne für diese Unternehmung von Anfang an nicht gut standen, hätte doch eigentlich allen Beteiligten klar sein müssen. Nur um am Ende den Familienfrieden zu wahren, war niemand bereit, das für jedermann auf der Hand Liegende auch zum Ausdruck zu bringen: Ein offenes Wort hätte zwar die Stimmung in der Familie zunächst gedrückt, aber am Ende zu einer besseren Entscheidung geführt. Eine Erkenntnis, die sich auch manche Arbeitsgruppe in Unternehmen zu Eigen machen könnte, wenn wieder einmal die graue Eminenz das Wort führt und aus Gründen der Harmonie oder auch ganz banaler Trägheit das Schweigen der anderen als vermeintliche Zustimmung gewertet wird.

Gleichzeitig wurde mir klar, warum, wie mir in einer Studie[1] jüngst eindrucksvoll gezeigt wurde, Kommunikation unter Fremden oft besser als mit Freunden und Verwandten funktioniert.

 

[1] Savitzky, Kenneth et al. (2010): The closeness-communication bias: Increased egocentrism among friends versus strangers, Journal of Experimental Social Psychology 47 (2011) 269 – 273

 

 

 

 

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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